Lülü – der Merlin-Versteher

lulu

Ein Schelmenroman

Welcher Teufel den Publizisten Willi Wottreng geritten hat, dass er für sein Romandébut „Lülü“  ausgerechnet das Tösstal als Tatort wählt, wissen mangels Geiern vielleicht die Auerhähne oder Gämsen, die sich da hinten  zwischen Tössstock und Schauenberg gute Nacht sagen. Aber lustige Geschichten gibt es auch in der Provinz. Und die ist irgendwo um die Ecke zwischen Turbenthal, Kollbrunn und Rikon.

Dass die Tösstaler zuweilen schlimme Finger sind und die eine oder andere Leiche im Keller haben, hat jüngst das  Autorenduo Roswitha und Jacques Kuhn – er der einstige Chef der Pfanni in Rikon – in seinen Regiokrimis schonungslos enthüllt. Doch wer vom Sachbuchautor und Wottreng einen solchen Regionalthriller erwartet hat, liegt falsch. Zwar hat das Tal als Bio- und Soziotop unwiderstehlichen Thrill-Appeal. Täuferhöhlen, dunkle Wälder, moderige Gewässer und schattige Hügel, Stündeler, Prediger, Weber, Spinner, Baulöwen und Dörfler, die sich schon über Thurgauer xenophob echauffieren können. Das Chelleland ist auch eine Geisterbahn. Aber das Setting des Romans geht über Lokalkolorit hinaus.

Diese Landschaft dient Wottreng als Kulisse, die Geschichte des Feckers oder „Lülü“ Anton Moser zu erzählen, der eine Theorie der akustischen Archäologie entwickelt hat. Er träumt von der Entwicklung eines Paläo-Sonars träumt. Der soll die Stimmen längst Verstorbener wieder hörbar machen.Auf solche Ideen kann  nur ein Filou oder eben „Lülü“ kommen. Der Spott ist ihm gewiss, aber der Fahrende will partout von seiner Idee nicht ablassen. Er setzt alles daran, die Stimmen der Kelten, die einst das Tösstal besiedelt haben sollen (für wissenschaftliche Verlässlichkeit der archäologischen Beschreibungen im Roman steht Prof. Dr. Philippe Della Casa von der Ur- und Frühgeschichte der Universität Zürich) wieder hörbar zu machen. Einmal nur dem Zauberer Merlin lauschen.  Doch der Traum wird ihm zum Verhängnis.

Auch der Gemeindeschreiber der fiktiven Gemeinde Riedwil könnte ein Paläo-Sonargerät gut gebrauchen. Er, der fiktive Erzähler des Romans, will herausfinden, warum auf dem Friedhof plötzlich die Wasserleiche Mosers gemeinsam  mit der erschossenen Riedwiler Alt-Gemeindepräsidentin Edith Nussbaumer de Trey gefunden wird und unter welchen Umständen sich der richtige Inhaber desselben Grabs, Archäologe und verstorbener Ehemann der Erschossenen, aus oder zu Staub gemacht hat.  Und was Nussbaumer mit Moser verbindet. Erinnern oder Gras drüber wachsen lassen? Gras, so der Untertitel von „Lülü“, wächst über alles ausser die Kühe, die es fressen. Aus seinen Akten und Notizen macht er sich einen eigenen Reim und wo die Schriften schweigen, wird er ein wenig zum Dichter, was er eigentlich lieber werden wollte als Gemeindeschreiber.

Viel packt der Sachbuchautor und Geschäftsführer der Radgenossenschaft von seinem Wissen über Jenische hinein, fast zu viel für das Fortkommen der Geschichte – doch macht er die Fahrenden jenseits von Klischees zu vielschichtigen Protagonisten des Plots. Hier bricht der Sachbuchautor durch, der über Zürcher Prostituierte, Rocker und andere Randfiguren publiziert hat. Und der Literat verrät seine Lehrmeister: Dürrenmatt und Glauser. Spannung und elegante Sprache sind garantiert.

Wottreng ist ein Schelmenroman mit klugem Plot und überraschender Auflösung gelungen.  Witzig und oft poetisch erzählt verschlingen sich Vergangenheit und Gegenwart, und allzeit rauscht die Töss. Sogar der Archäologe kriegt am Schluss eine standesgemässe Bestattung.

Willi Wottreng. Lülü. Bilger-Verlag 2015.  Buchvernissage 15. April 20.30 Orell Füssli Buchhandlung Bellevue am Stadelhoferplatz

 

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