Deskaheh. Ein Irokese am Genfersee
Willi Wottreng ist ein kleiner Geniestreich gelungen: Er hat ein Indianerbuch mit historischem Kern vor Schweizer Kulisse, einen Politthriller, Krimi oder egal was und vor allem – von all dem etwas geschrieben. Lesevergnügen ist garantiert.
Osceola, Sitting Bull, Red Cloud oder Black Hawk: Die schillernden, aber historisch profund recherchierten Sachbücher des Schweizer Schriftstellers Ernie Hearting – bürgerlich Ernst Herzig (1914–1992) – hat das Gerechtigkeitsempfinden von tausenden Jugendlichen geprägt. Die Chiefs der – heute politisch nicht mehr korrekt – «Indianer» und ihr Schicksal vermochten Teenager in ihren Bann zu schlagen. Der Völkermord an den First Nations wühlte auf und sensibilisierte eine ganze Generation für Minderheiten und ihre Lebensumstände.
Willi Wottreng ist ein Kenner der schwierigen Lage von Menschen, deren Kultur in einer Mehrheitsgesellschaft vermeintlich keinen Platz mehr hat. Der Historiker und Publizist ist seit 2014 Geschäftsführer der Radgenossenschaft, der Dachorganisation von Sinti und Roma in der Schweiz.
In seinem neuen Roman arbeitet er die wahre Geschichte eines kanadischen Irokesen auf, der 1923 auf politischer Mission die Schweiz bereist und hier um nichts weniger als staatliche Anerkennung seines Volkes kämpft. Wie Heartings Figuren scheitert der Chief, allerdings nicht in Pulverdampf und Schlachtgetümmel in der Prairie, sondern leise und melancholisch am Gestade des Genfersees. Gegner sind Gleichgültigkeit, politisches Kalkül, Überheblichkeit.
Angesichts der reichen «Indianerliteratur» könnte man stöhnen – nicht noch ein Roman über eine Rothaut! Ist ein Roman überhaupt die richtige Form, um sich einem historisch verbürgten Thema zu nähern? Gefühle und Gedanken zu fabulieren, die in den schriftlichen und Bildquellen keine oder nur geringe Grundlage finden?
Die Form des Romans ist vielleicht gerade deshalb angebracht, weil Wottreng für seine Geschichte keine lückenlosen Quellen hat – sondern teils schriftliche und Fotografien, aus denen er seine Ideen schöpft. Um ein Porträt des Mannes von den Grand River zu zeichnen, muss er also dazu erfinden. Ein historisches Porträt suggeriert Faktizität, ein Roman dagegen gaukelt keine Quellentreue vor, die der Autor gar nicht leisten konnte.
Was man weiss: 1923 reiste Dekaheh, Chief der First Nations vom Grand River als Gesandter seines Volkes nach Genf. Sein Ziel: Die Anerkennung der Irokesen als Nation und nicht als Untertanen des jungen kanadischen Staates. Die Begründung: Der Völkerbund der Indigenen – gegründet noch vor dem Bund in Europa! – hatte buchstäblich sein Kriegsbeil begraben und war in die Region am Grand River gezogen – Als Gegenleistung hatte ihm 1784 Grossbritannien den Status einer Nation verliehen. Die kanadischen Behörden sehen dies ganz anders. Sie wollen die Indianer zur Demokratie erziehen und sie nicht nur geografisch umsiedeln, sondern auch in der Zeitzone der Bleichgesichter ansiedeln – genauer: in der Moderne. Und sind die Wilden nicht willig, so brauchen die Zivilisierten Gewalt.
Chief Deskaheh antichambriert nun in Begleitung eines Anwalts in Genf beim Völkerbund und in Bern beim Bundesrat – überall wird er vertröstet und an Subalterne weitergereicht. Niemand will sich für die Rothäute engagieren, zu viel steht nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Spiel und mit dem Powerplayer Grossbritannien, der ein Machtwort sprechen könnte, will es kein anderer Staat verderben. Dennoch gibt der Chief nicht auf und entwickelt grosse Meisterschaft in der Verfassung von Reden und politischen Stellungnahmen.
Während die politische Mission scheitert, hat der Chief in der Schweiz gesellschaftlich viel Erfolg. Philanthropen und Gesellschaften für ethnische Minderheiten reichen den Chief, der kalkuliert in einem Indianerkostüm auftritt (das für die Irokesen nicht typisch, aber für die Europäer typisch indianisch ist) reichen ihn für Vorträge weiter, das weibliche Publikum liegt ihm zu Füssen. Aber nur eine Frau hält die ganze Zeit zu ihm, schreibt seine Reden und Pamphlete.
Doch auch die Menschenfreunde beugen sich am Ende der Macht des Faktischen – niemand will eine indianische Staatlichkeit anerkennen. Auch seine Freunde raten ihm zum Kompromiss – der Chief bleibt unbeugsam. Er bezahlt seine Unbeirrtheit schlussendlich fern seiner Heimat mit dem Leben.
Warum der Chief nach seiner Rückkehr in die USA (Kanada liess ihn nicht mehr einreisen) so plötzlich starb, darüber lässt sich mit Wottreng trefflich spekulieren. Ob es den Touch Agententhriller gebraucht hat, sei dahingestellt, die leise Liebesgeschichte, die ebenfalls erzählt wird, verleiht dem Porträt aber die nötige Würze. Dem Autor gelingt es, den Weg des Chiefs vom Indigenenvertreter zum Staatsmann nachvollziehbar zu schildern. Statt als auktorialer Erzähler aufzutreten, lässt er eine fiktive Anwältin und Ernie Hearting-Fan die Puzzleteile aus Deskahehs Leben zu einem Ganzen zusammenzufügen (s. auch WDR). Wottreng ist ein differenzierendes Portrait gelungen, das den Leser 2018 ebenso betroffen und aufgewühlt zurücklässt, wie die Porträts des Schweizer «Indianerhistorikers» Hearting aus den 60ern des 20. Jahrhunderts.
Willi Wottreng. Deskaheh. Ein Irokese am Genfersee. Bilger Verlag 2018. 198 S. sw Abb.