Archiv der Kategorie: Kurzkritik der Woche

Kurzkritik der Woche

Auf der Suche nach dem Glück

«Nach Ohio ist nicht die Geschichte. Es ist eine Geschichte» – fasst Benedikt Meyer zusammen, wenn auf den Spuren der Wäscherin Stepanie Cordelier durch die Staaten radelt. Auf dieser Reise sucht er sich selber, seine Geschichte und diejenige seiner Urgrossmutter aus dem 19. Jahrhundert. Er forscht und erfindet, füllt Leerstellen mit Phantasie aus, erzählt und fabuliert. Geschichte ist immer eine Frage der Perspektive. Meyer schreibt in seinem Buch unter dem Titel «Nach Ohio» eine spannende Biographie einer Frau, deren Leben unspektakulärer nicht sein könnte. Ein absolutes Lesevergnügen!

Fräulein Stephanie Cordelier stammt aus einer zerrütteten Familie mit vergötterter Mutter und trinkendem Vater. Eine Familie, die Mädchen nur schätzte, weil sie schufteten, wuschen, bügelten und sich um die zahlreiche Geschwisterschar kümmerte.

Im baslerischen Oberwil litt die junge Frau zwar keine Not – aber unter Perspektiven- und Ereignislosigkeit. So packt sie ihre Koffer und wandert «Nach Ohio» aus, in die Staaten, wo sie Arbeit und Brot findet.

Doch ist ihre Geschichte keine klassische Tellerwäschergeschichte, denn viele Auswanderer blieben in den Staaten entweder ganz auf der Strecke oder fanden nie aus einem prekären Leben heraus. Stephanie findet zwar gastliche Aufnahme in ihren Dienstfamilien und Freundinnen – aber zuhause fühlt sie sich in den Staaten nie. Sie bleibt Wäscherin, Dienstmagd, Kindermädchen. Geschätzt, bezahlt, aber auch nicht mehr.

Keine Ankunft – zwei Aufbrüche

So kehrt sie erneut auf schwankendem Schiff in die Schweiz zurück. Sie freut sich auf die Überraschung, freut sich auf Mutter, Geschwister, Zwetschgenkuchen. Und findet nur noch ihre tote Mutter aufgebahrt in einem Sarg, gestorben wenige Stunden vor Stephanies Heimkehr.

Jetzt hat sie nichts mehr, die «Heimat» ist verschwunden, sie entzweit sich mit ihrem Vater. Eine Reise in die USA bricht sie im Zug nach Le Havre in Porrentruy ab, denn in den USA hat sie ebenso wenig einen Ort, an den sie hingehört.

So baut sie sich in härtester Arbeit eine Existenz in Basel auf, heiratet und gründet eine Familie. Benedikt Meyer eine Geschichte auf, in die er auch seine Radtour durch die USA einflicht, seine Spurensuche und seine Überlegungen, warum ihn Stephanie so fasziniert. Antworten erhält man keine, aber Einblick in ein Leben,  im dem trotz aller Widrigkeiten die Suche nach dem Glück nie aufgegeben wird.

Benedikt Meyer, «Nach Ohio». Auf den Spuren der Wäscherin Stepanie Cordelier. Zytglogge Verlag  2019.  Mit sw-Fotos.

Liebeswirren der Romantik

Annette von Droste Hülshoff tut, was eine junge Frau von Stand in ihrer Zeit nicht tun soll. Sie ist frech, scharfzüngig, geht mit dem Hammer im Steinbruch auf Sammeltour, kann besser dichten als ihre Entourage und verliebt sich in einen Bürgerlichen. Mit „Fräulein Nettes kurzer Sommer“, legt die deutsche Autorin Karen Duve (Taxi) einen historischen Roman der Extra-Klasse vor, gut recherchiert, witzig und spannend zu lesen.

Auf über 500 Seiten breitet sie ein Panorama der zerrissenen Gesellschaft der Romantik aus.

Wir gehen mit rebellischen Studenten auf Sauftour in Göttingen, reisen durch den Matsch eines verregneten Sommers nach Kassel, besuchen dort die Brüder Grimm und sind zu Gast in den verschiedenen Schlössern der weitläufigen Verwandtschaft der Droste.

Der Mann, der das Herz der Dichterin entflammt, Heinrich Straube, ist ein armer Schlucker und wird von ihrem Onkel August von Haxthausen als kommendes Genie und neuer Goethe gerühmt und finanziert. Mit Armut geschlagen, lässt er es auch an Schönheit missen: Klein, schmächtig, mit einem dünnen Stimmchen, das ihm den Spitznamen „Wimmer“ einträgt, kleidet ihr sich in einen schmuddeligen Wollmantel einen „Flaus“, den er nie auszieht. Doch Straube ist ein äusserst liebenswerter Mensch, scherzt und lacht und interessiert sich für Annettes Dichtkunst.

Doch die Liebe währt nur kurz. Eine solche Verbindung darf nicht sein und Drostes Familie intrigiert.

Der Roman ist nicht nur ein gelungenes Sittenbild, eine Dichterbiographie, sondern auch  das Portrait eines ungewöhnlichen, liebenswerten, feinfühligen Mannes.

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer, Galiani, Berlin 2018

Rezension von Sylvia Oehninger

Ein Buch wie ein Film – rasant und spannend

Es kann leicht schief gehen, wenn jemand, noch nicht 50 Jahre alt, seine Autobiografie schreibt. Nicht so bei Xiaolu Guo, der chinesischen Filmemacherin und Schriftstellerin. Ihre Lebensgeschichte „Es war einmal im Fernen Osten“, ist eine der spannendsten Autobiografien, der letzten Jahre.

Xiaolu Guo wurde anfang der 1970er Jahre in Südchina geboren. Ihre Eltern gaben sie weg aufs Land. Doch ihre Pflege-Eltern, arme Bauern, konnten das Kind nicht ernähren. Damit Des nicht verhungere, brachten Sie es zu seinen Grosseltern, die in einem ärmlichen Fischerdorf am Südchinesischen Meer lebten. Die Grossmutter war Analphabetin, hatte keinen eigenen Namen und verkrüppelte Füsse. Sie betete zu einer Statue der Göttin Guanyin. Der Grossvater, ein Fischer, dessen Boot enteignet und kollektiviert worden war, lebte von Strandgut, das er aufsammelte und an einem Stand verkaufte. Einzige Verbindung zur Aussenwelt war der Bahnhofssvorsteher. Neugierig schlich sich die kleine Guo zu ihm ins Stationshaus, um Geschichten von fernen Städten zu hören. Einmal kam eine Gruppe Künstler in das Dorf und malte das gelbe Meer in bunten Farben. Da beschloss das Mädchen, Künstlerin zu werden. Doch der Weg dazu war lang.

Mit sieben Jahren wurde die kleine Guo von ihren Eltern, die sie nicht kannte, in die Stadt Wenling geholt. Die Familie lebte zusammen mit anderen Familien in einem „kommunistischen Wohnhof“. Die Mutter war Propagandistin und Schauspielerin, der Vater Kunstmaler. Er war während der Kulturrevolution zur Arbeit in einem Steinbruch gezwungen worden, war jetzt aber rehabilitiert.

Es folgten schwierige Jahre für Guo. Es stellte sich heraus, dass sie einen Bruder hatte, der massiv bevorzugt wurde, besonders beim Essen. Er bekam grössere Portionen und hasste seine Schwester. Sie war immer auf der Suche nach Essen, wurde in der Schule gequält und von einem Funktionär über Jahre sexuell missbraucht.

Doch ihr Wunsch, Künstlerin zu werden wurde noch grösser, schliesslich entschied sie sich für den Film, nachdem sie im Wohnkollektiv zahlreiche Propagandafilme im Fernsehen gesehen hatte.

Sie wollte an die Filmhochschule in Peking gehen und büffelte Film, so viel sie konnte. Sie bekam die Unterstützung von ihrem Vater. Beim zweiten Anlauf setzte sie sich als eine von 7‘000 Bewerbern um die 11 Plätze durch.

Während der Zeit ihrer Ausbildung in den 1990er Jahren herrschte eine enorme Aktivität in der Kunstszene von Peking. Guo suchte Performance-Künstler auf und filmte sie. Nach Abschluss ihrer Ausbildung schrieb sie Drehbücher und versuchte die Genehmigung für einen eigenen Film zu bekommen, doch sie brachte kein einziges Drehbuch durch die Zensur. So schrieb sie Drehbücher für Fernsehserien, bis sie beschloss, in den Westen zu gehen. Vom British Council bekam ein Stipendium für ein Jahr und ging nach England.

2015 war Xiaolu Guo Writer in Residence in Zürich. Ich sah sie dort an einer Lesung. Die kleine Frau in der türkisfarbenen Lederjacke strahlte eine ungeheure Energie aus. Zuvor hatte ich ihr erstes Buch „Kleines Wörterbuch für Liebende“ gelesen, das in Guos ersten Jahren in England spielt und den Erwerb der englischen Sprache zum Thema hat. Bei diesem Aufenthalt in Zürich entstand die vorliegende Autobiografie.

Man merkt an ihrem Stil, dass Xiaolu Guo Drehbücher schreibt. Auch die Bekanntschaft mit dem chinesischen Theater und der chinesischen Lyrik hat ihren Stil geschult. Sie schreibt bildhaft, rasant und voller Spannung. Es bleibt jedoch nicht bei der filmischen Beschreibung ihres Lebens. Die Politik spielt eine wichtige Rolle und die Autorin ist gleichzeitig sehr reflektiert und äusserst empathisch gegenüber ihrer Protagonistin, die, wie sie schreibt, zuerst lernen musste zu lieben.

Xiaolu Guo: Es war einmal im Fernen Osten, Albrecht Knaus Verlag, München 2017

Nichts wie raus!

Landschaft? Landschaft!

Im on.off Projekt- und Ausstellungsraum auf dem Lagerplatz 2 in Winterthur ist gerade eine spannende Begegnung im Gange. Zwei Landschafts-filmer? -maler? -performer? Erkunden das Genre Landschaftsdarstellung auf überraschend neue Art und Weise. Nino Baumgartner (Bern/Zürich) und Bignia Wehrli (Berlin / Sternenberg) suchen neue Wege in vermeintlich ausgetretenem Terrain.

Die Helgen kennen wir aus allen Museen: Knorrige Tanne, steiler Berg in mystischem Dunst im Hintergrund, Wasser, Fels, Natur eben. Alles opulent in Öl und so. Immer wieder schön, aber eben oft auch nur für Kenner. Am der schönen Pyramide des Niesen, der über dem Thunersee thront, haben sich schon so viele Künstler abgearbeitet. Ferdinand Hodler, Johannes Itten,  Paul Klee, und viele andere.

Baumgartner macht aus den Niesen ein ganzes Manöver. Mit Rucksack und allerhand Survival-Stuff klettert er am Niesen herum und filmt mit einer Go-Pro seine Exkursionen. Bild für Bild reiht sich so der Berg, die Aussicht, sein Gestein, seine Flanken und Pflanzen zu einer eigenwilligen Performance. Spannend ist, was man nicht sieht: Die Pyramide.

Bignia Wehrli beschäftigt sich mindestens so sehr wie mit ihrem Sujet mit der Technik, wie sie das Sujet sichtbar machen kann. Der Ingenieurskunst sind dabei keine Grenzen gesetzt. In der aktuellen Arbeit lässt sie einen Schreibmaschinenkoffer, der zur Lochkamera umgebaut worden ist, die Töss von Wila nach Winterthur hinabtreiben. Auf dem Fotopapier entstanden je nach Sonnenstand und Strömung sieben unterschiedliche, schwarze Kreise. Je nach «Wellengang» erscheinen die Kreise verwackelter oder schärfer.

Kombiniert im einstigen Ofen der Sulzer verschmelzen die Arbeiten zu einer spannenden Performance. Lydia Wilhelm und Nicole Seeberger ist in dieser Location wieder ein ganz spezieller Coup geglückt, den man gesehen haben muss.

Bis 12. November, Do 17- 20 Uhr, Fr 17-20 Uhr, Sa 14 – 17 Uhr

On.off

Lust an der Vergänglichkeit

Manchmal trifft man an überraschenden Orten überraschende Kunst. Zwischen altem Industriekanal und Rastplatz Otelbach an der viel befahrenen Kempttalstrasse bei Illnau haben die Zürcher Künslter Nico Lazula und Ruedi Staub / LAST eine eigenwillige Kunstinstallation aus bemaltem Holz in die Landschaft gesetzt. Sie hält bis am 10. Juli – dann wird sie abgebaut – doch dies ist Konzept.  Titel: Leftovers_6. Lust an der Vergänglichkeit weiterlesen

Abgetaucht

abwesenheitsnotiz

Ein Gastbeitrag von Sylvia Oehninger

Eine junge Frau kündigt ihren Job, weil sie endlich etwas tun möchte, was sie wirklich will. Das ist gar nicht so einfach. Doch die Autorin Lisa Owens macht im Roman „Abwesenheitsnotiz“ aus dem Leben der jungen Claire Flannery eine spannende Geschichte.
Sie nimmt uns mit auf eine langsame, ereignisarme, an Umwegen reiche Reise. Wir lernen die Tage der Protagonistin kennen, die Wettbewerbe ausfüllt, Bücher über Karriere liest, fern sieht, aus dem Fenster schaut und die Menschen in der U-Bahn und auf der Strasse versunken betrachtet.
Je länger der Zustand andauert, desto weniger weiss sie, was sie tun soll und desto eher rechtfertigt sie sich vor ihren aktiven, erfolgreichen Freundinnen, dass sie immer noch keinen neuen Job hat.
Kommt dazu, dass sie sich mit ihrer Mutter zerstritten hat, die sich nicht mehr meldet und ihre Grossmutter reagiert auf das Angebot Claires, ihr zu „helfen“ mit hochgezogenen Augenbrauen.
Die hilflosen Vermittlungsversuche des Vaters, Clairs Alkoholabstürze, die Haushaltzanks mit ihrem Freund Luke sind jedoch so plastisch und oft auch lustig erzählt, dass wir Claire allmählich lieb gewinnen. Und wir hoffen mit ihr, dass sie, wenn sie „nur genug Selbstoptimierungspodcasts und Erfahrungsberichte von Finanzhaien reinzieht, die jetzt Kunsthandwerk am Küchentisch betreiben, dann muss sich doch die Lösung von selbst offenbaren, irgendwo und irgendwann?“

Lisa Owens, Abwesenheitsnotiz, Piper Verlag 2016

Kunst kommt von Geschichte

TauschwesternRosina KuhnPavel SchmidtPavel SchmidtMichael WyssMartin SchwarzLudwig StockerLudwig Stocker

Zu viele Ausstellungen zelebrieren heute irgendein Genie oder eine „Position“. Und zu wenige öffnen die Augen für grössere Zusammenhänge. Die Ausstellung unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachtheil der Kunstgeschichte für die Kunst“ in den Kunsträumen Oxyd in will uns ebendiese Zusammenhänge als „Unzeitgemässe Betrachtungen“ vermitteln. Die Schau hat auch einen kritischen Anspruch – Beschäftigung mit der Geschichte könnte der heutigen Schnelllebigkeit, Innovationssüchtigkeit und oberflächlich-kommerzialisierten Kunstbetrachtung entgegenwirken. Historisierende Kunst als Weg zum Heil für eine verrottende, kapitalistische Gesellschaft. Ästhetik als Kapitalismuskritik und moralische Erleuchtung. Kunst kommt von Geschichte weiterlesen